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Pool für
geistesverwandte Musiker
oder: Kein Label für eine Nacht
Wolfgang Muthspiels Material
Records sieht sich als Label mit ästhetischem Anspruch
Je kleiner, bzw. jünger die Band, desto wichtiger scheint es
zu sein, einen Plattenvertrag bei einem großen Label zu bekommen – so der
Eindruck, wenn man von den Bemühungen der Heerscharen von Newcomerbands hört.
Etablierte Musiker dagegen verlassen sich immer öfter auf den Eigenvertrieb –
oder gründen ein eigenes Label.
Wolfgang Muthspiel ist nach 10 veröffentlichten Alben bei
Polygram/Universal zwischen 1988 und 1999 sowie weltweiten Kooperationen als
Gitarrist bei Projekten anderer Musiker ein etablierter Künstler. Aufgenommen
in die Liste der 'Top Ten Jazzguitarists Of The World' vom 'Musicians
Magazine', 1997 zum Musiker des Jahres und 2003 zum europäischen Jazzmusiker
des Jahres gekürt, gehört Muthspiel zu den Musikern, die Plattenverträgen nicht
unbedingt hinterherlaufen müssen. Ausschlaggebend für den Entschluss, seine
Geschicke diesbezüglich trotzdem in die eigenen Hände zu nehmen, war schließlich
seine Entdeckung der Norwegerin Rebekka Bakken: „Vorher war sie in Norwegen
eher im Rockbands aktiv und noch nicht so bekannt; unsere Zusammenarbeit war
ihr Beginn in der jazz-verwandten Welt.“ Die Vorbereitungen für das erste
gemeinsame Album "Daily Mirror" liefen auf Hochtouren, „das Studio
war gebucht, Musiker standen bereit, aber dann ist das Label, mit dem wir das
machen wollten, abgesprungen, also mussten wir handeln“, reflektiert Muthspiel
die Anfänge der Selbständigkeit. Wobei die Vorstellung nicht erst in diesem
Moment in ihm reifte: „Die Idee für einen Pool für geistesverwandte Musiker
hatte ich schon länger. Ich wollte etwas schaffen, wo etwas wachsen kann mit
einem gewissen ästhetischen Anspruch, der in großen Plattenfirmen einfach
aufgrund der Organisation nicht herrscht“, so Muthspiel kritisch über die
„Majors“.
Jazz bleibt zwar das wiederkehrende Genre, mit dem Muthspiel
in Verbindung gebracht wird, allerdings ist das für den Österreicher eher ein Ausgangspunkt,
als eine klare Zuordnung: „Ich war nie ein Verfechter der ‚reinen Jazzlehre’“,
lacht er, und erklärt den Anspruch für sich und Material Records als ein Label
für eine Mainstream-zugängliche Form des Jazz mit einem gewissen Pop-Anspruch:
„Rebekka passt im Prinzip genau ins Konzept. Sie sieht sich auch nicht als
Jazzmusikerin, sie schreibt Songs und singt sie. Und auch, wenn die beiden
Platten, die sie bei mir gemacht hat, vielleicht noch etwas mehr Jazz sind, als
ihre späteren Alben (seit 2003 veröffentlicht
Bakken bei Universal; Anm. d. Red.),
bleibt das ein Singer/Songwriter-Ansatz. Genauso wie wir den isländischen
Sänger Helgi Jonsson
haben, dessen Musik man schon als Pop bezeichnen kann. Und diese Welt ist mir
auch sehr nah, und ich denke, dass da auch noch einiges passieren wird auf dem
Gebiet.“
Die Veröffentlichungen auf Material Records sind derzeit
noch Produktionen, mit denen Muthspiel in irgendeiner Weise etwas zu tun hat,
Musik aus seinem eigenen musikalischen Dunstkreis und von Leuten, mit denen er
etwas zu tun hat: „Entweder gefällt's mir, und ich möchte es unterstützen, oder
ich habe es produziert, oder ich spiele mit – es gibt also zu jedem Album einen
persönlichen Bezug und liegt mir am Herzen. Bis jetzt gibt es immer diese
Verbindung, aber ich schließe nichts aus für die Zukunft. Ich habe schon einige
interessante Sachen angeboten bekommen. Aber mir ist auch ein gewisser
Prozesscharakter wichtig: Es geht darum, dass man das starke, das
zukunftsweisende eines Künstlers herausholt. Da habe ich dann auch gerne
mehrere CDs im Auge – allerdings gibt es keine derartigen Verträge, dass die
das machen müssten. Aydin Esen
ist so ein Beispiel für einen Künstler, dessen Musik Muthspiel so gereizt hat,
dass unbedingt seine Soloplatte machen wollte. „Außerdem produziere ich gerade
eine CD von dem tunesischen Sänger Dhafer Youssef, mit dem ich schon früher mal
gearbeitet hatte, und mit dem ich seit Jahren eine enge Verbindung pflege.“ Und
für den Herbst freut sich Muthspiel auf die Zusammenarbeit mit dem
holländischen Saxofonisten Joris Roelofs, ebenso ein weltweit gefragter
Musiker, der in New York lebt und derzeit beim Vienna Art Orchester spielt.
Vier Veröffentlichungen im Jahr, sagt er, sind dabei das Maximum.
„Veröffentlichen kann man ja schnell etwas, aber es muss auch adäquat betreut
sein; Live-Aktivitäten sind wichtig, da will alles sehr genau getimt sein. Es
gibt auch Künstler, die was haben, und das nur schnell raus bringen wollen, das
kann auch OK sein, aber daran bin ich nicht interessiert.“ Kein Label für eine
Nacht also!
Denn trotz aller Spontaneität, was den Beginn seines Labels
betrifft, ist es Muthspiel wichtig, dass Material Records nicht nur ein
Liebhaberlabel ist, sondern ein Label mit eigener Identität, das sich sowohl
vom Repertoire und der Bandbreite als auch von den Vertriebswegen auf einem
internationalen, professionellem Level bewegt. „Mein Ziel ist es, dass sich das
Label als Qualitätsmarke etabliert. Mein Vorbild ist das Label ECM Records von
Manfred Eicher – das ist zwar stilistisch anders, aber ich finde es toll, wie
das in der Welt dasteht, wie Eicher das gemacht hat, und seinen
Qualitätsanspruch kompromisslos umgesetzt hat. Und man kriegt's überall auf der
Welt.“
Gleichwohl ist Muthspiel zwar Labelchef, aber doch in erster
Linie Musiker. Und neben drei Tagen im Monat, die er and der Hochschule für
Musik in Basel unterrichtet, betrifft der Großteil seiner Termine den Musiker
Muthspiel. Die geschäftlichen Belange des Labels regeln seine beiden
Angestellten in den Büros in Graz und Wien, Muthspiel trifft vor allem die
kreativen Entscheidungen. Und freut sich über die Unabhängigkeit: „Irgendwann habe
ich die künstlerische Freiheit einfach nicht mehr missen wollen; die Tatsache,
dass ich kein Gespräch führen musste darüber, was ich machen möchte.“ Gibt es
einen besseren Grund, sich von einem großen, erfolgreichen Labeldeal zu trennen?